Unterwegs am Rhein entlang

Ein Fluss fließt durch ihn hindurch

Der Rhein, der an einigen der schönsten Landschaften Europas vorbeifließt, ist ebenso ein Mythos wie eine Wasserstraße. Hier tummelten sich Wagners Jungfrauen. George Eliot schwärmte von den fantasievollen Schlössern. Westliche Musik wurde in der Nähe geboren. Reisen auf der Straße,Justin Davidsonfolgt dem großen Fluss flussaufwärts – vom niederländischen Flachland bis zu den Schweizer Alpen – und findet seine eigene Inspiration.

Das Dorf Piesport erstreckt sich entlang einer Biegung der deutschen Mosel, inmitten der landschaftlich schönsten Nebenflüsse des mächtigen Rheins und mitten im Herzen des Rieslinggebietes.

Man kann dem, was man am Rhein sieht, nicht trauen. Der Gedanke kommt mir, als ich im absurd malerischen deutschen Dorf Oberwesel an Bord der letzten Fähre des Tages gehe. Der Fluss verengt sich hier zwischen schroffen Felswänden und üppiger Vegetation. Während sich das Boot durch die Strömung bewegt, steht die Sonne tief, bedeckt die Klippen und verdichtet die Schatten. Ein zuckerweißes Mini-Herrenhaus mit Schnörkeln aus Korallenglasur liegt wie eine Fata Morgana mitten im Wasser und fängt den Schein des Abends ein. Oben leuchtet auf einem Felsvorsprung eine dunkle Festung. Verblasste Druckbuchstaben auf den Steinfundamenten weisen darauf hin, dass es sich um ein Hotel handelt. Die ganze Szene wirkt hinreißend, unheimlich und kunstvoll unwirklich, wie eine Illustration für ein Kinderbuch über rachsüchtige Riesen und glitzernde Ritter.

Der Rhein ist eine stark befahrene Verkehrsstraße, weshalb einwöchige Kreuzfahrten und beliebte Tagesausflüge sowohl äußerst beliebt als auch recht eng sind. Das Rheintal hingegen ist eine weite und abwechslungsreiche Region, die von Nebenflüssen durchzogen ist und sich am besten mit dem Auto erkunden lässt. Ich entscheide mich für Letzteres und fahre zwei Wochen lang flussaufwärts vom niederländischen Flachland in die Schweizer Alpen und schlängele mich von Ufer zu Ufer. Die ganze Zeit über kämpfe ich mit der Unsicherheit: Sehe ich den Rhein so, wie er tatsächlich ist, oder sehe ich einen Fluss der Fantasie? Das denke ich, während ich die Mosel hinauf nach Piesport schleiche, einem geschäftigen kleinen Dorf, das so hübsch in sanften, weinbewachsenen Hügeln liegt, dass ich das Gefühl habe, den Weg in eine Schneekugel gefunden zu haben.

Der 766 Meilen lange Rhein, der durch eine spektakuläre Vielfalt an Landschaften führt, verzaubert seit Jahrhunderten Komponisten, Künstler, Dichter, Patrioten, Schriftsteller und Krieger, die ihn mit Mythen überzogen haben. Seine Geschichten spielen sowohl über als auch unter den Wellen: Die Sirene Loreley sitzt auf einem hohen Felsen und lockt Jugendliche in den Tod; Wagners Rheintöchter tummeln sich auf dem tiefen Bett. Der echte Fluss ist kaum ein Band ununterbrochener Schönheit – im Laufe der Jahrhunderte wurde er ausgebeutet, verschmutzt, entwickelt und umgeleitet. Dennoch entfaltet sich die Reise vom Mund zur Quelle in einer Abfolge verwirrender Erfahrungen, in denen das Tatsächliche und das Mythische verschmelzen, und es fällt mir schwer, eine ausführliche Geschichte von der bloßen Wahrheit zu trennen.

Fuß- und Radwege verbinden Kientzheim, eines der ältesten Dörfer Frankreichs, mit einer Reihe idyllischer Weinorte entlang der Mosel.

Die Romantiker des 19. Jahrhunderts liebten diesen Teil Europas gerade deshalb, weil sie ihn so gut an ihre Fantasien anpassen konnten. George Eliot schwärmte von „der Wirkung, die diese Ruinen auf der Rheinburg hervorrufen, die zerbröselt und in eine solche Harmonie mit den grünen und felsigen Hängen übergegangen sind, dass sie eine natürliche Fitness zu haben scheinen.“ Noch heute erinnert die natürliche Erhabenheit des Verfalls entlang dieses Abschnitts des Mittelrheins – der 60 Meilen zwischen Koblenz und Mainz – an eine verschwommene Vergangenheit, eine ursprüngliche und poetische Ära. Und wann immer die Romantiker die Realität enttäuschend fanden, verbesserten sie sie. Im 19. Jahrhundert wurden Ruinen wieder aufgebaut, Mosaike ersetzt und der Verfall rückgängig gemacht – alles, um den Relikten des Mittelalters ein überzeugenderes mittelalterliches Aussehen zu verleihen.

Das entdecke ich selbst auf Burg Rheinstein, der Burg, die fotogen über Trechtingshausen thront. Um das Jahr 900 n. Chr. erbaut, wurde es erweitert, geplündert, aufgegeben und wieder aufgebaut, sodass das Original ekstatisch mit dem Ersatz verschmilzt. Verblüfft und erstaunt streife ich durch das Wasserfüllhorn aus Stadtmauern, Türmchen, Bogenfenstern, Gewölbehallen und heraldischen Wappen. Es ist, als wäre ich in den Rittertraum von jemandem geraten, und das ist tatsächlich der Fall. Der preußische Prinz Friedrich Wilhelm Ludwig kaufte 1823 den imposanten Steinhaufen und gestaltete ihn zu einem neugotischen Bauwerk um, komplett mit einem Mausoleum für seine eigenen Überreste und die seiner Nachkommen. 1975 wurde das verfallende Schloss von einem Opernsänger namens Hermann Hecher gerettet, der durch die Restaurierung weitaus größeren Ruhm erlangte, als er es jemals auf der Bühne getan hatte. Ist Burg Rheinstein also real oder Theater? Die Frage hat hier kaum eine Bedeutung.

Im nahegelegenen Bacharach, einem bezaubernden Dörfchen, lasse ich mich im Posthof-Biergarten mit einem Krug Hefeweizen nieder. Ich ziehe das kleine Buch über Rheinkunde hervor, das ich mit mir herumgeschleppt habe, und lese eine typisch gruselige Geschichte über die Stadt: Der Teufel will dem Kaiser den dicken roten Bart abschneiden, bis ein Riese eingreift und alle Barbiere von Bacharach ertränkt. Ich lege die Fabeln beiseite und wende mich stattdessen der Geschichte zu, wo ich einen anderen Massenmord vorfinde. Im 13. Jahrhundert wurde in einem Graben die verstümmelte Leiche eines einheimischen Jungen namens Werner gefunden. Die Bürger von Bacharach kamen sofort zu dem Schluss, dass es sich bei seiner Ermordung um ein jüdisches Ritualopfer gehandelt haben musste, und schlachteten als Vergeltung ein paar Dutzend Juden ab. Fakten und Vermutungen, reale und eingebildete Gewalt, Wissenschaft und Erfindung, Legende und Landschaft – all diese Dinge verschmelzen in dieser wunderschönen Landschaft. Ich versuche, mich nur auf die Urtümlichkeit konischer Türme, schmiedeeiserner Bäckereischilder, Fachwerkhäuser mit gewölbten Wänden, gebogenen Böden und fröhlichen Geranienkästen zu konzentrieren. Doch vom Biergarten aus schweift mein Blick nach oben zu einer gotischen Ruine, die über die Dachlinie hinausragt. Es ist die St.-Werner-Kapelle, benannt nach dem Jungen, dessen Ermordung ein Pogromfieber auslöste.

Burg Rheinstein, eine von Dutzenden Burgen entlang des Rheins, die bis ins Mittelalter zurückreichen, aber im 18. Jahrhundert umgebaut wurden, um mittelalterlicher auszusehen.

Ich bin mit literarischen Vorurteilen ins Rheintal gekommen, und ich stelle langsam fest, dass dies auch bei meinen Vorgängern der Fall war. Ich trete in die Fußstapfen von Träumern. Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe, Achim von Arnim und tausend kleinere Barden besangen den Fluss als wandelbares Symbol – für Majestät, Nationalstolz, Brüderlichkeit oder die deutsche Seele. Sie beobachteten es so genau, dass ihre Beschreibungen manchmal anschaulicher sind als das, was tatsächlich da ist.

Seit Jahren freue ich mich auf Köln, mein Bild ist vor allem durch Heines Gedicht geprägt“Im Rhein”– die Robert Schumann im Liederzyklus vertonteDichterliebe(„Die Liebe des Dichters“). Heine umkreist die Stadt von oben und blickt auf die wässrigen Spiegelungen der Domtürme. Dann stürzt er sich in die massive Tür und verweilt vor einer hübschen Madonna, die „auf vergoldetes Leder gemalt“ ist. Es ist ein Gemälde in einer Kirche, ein Gedicht, ein Lied, eine multimediale Konvergenz der Künste am Ufer des größten Flusses Europas.

Die Realität ist weniger aufgeräumt und komplexer. Hotels, Restaurants und Häuser mit Spitzdächern säumen den Parkstreifen entlang des Flussufers, während die Türme darüber hinausragen – zu weit, um sich in Heines „heiligem Bach“ widerzuspiegeln. Der Kölner Dom, ein finsteres gotisches Ungetüm, ist ein Überlebenskünstler: Die Souvenirläden in der Nachbarschaft verkaufen Tischsets mit Luftaufklärungsfotos aus dem Zweiten Weltkrieg, auf denen die ramponierte Kirche über einem Trümmermeer schwebt. Seitdem hat sich Köln zu einer lebendigen internationalen Stadt entwickelt. Tagsüber sieht der Brüsseler Platz im Belgischen Viertel grün und ruhig aus, aber in Sommernächten verwandelt er sich in einen Treffpunkt für die unter 30-Jährigen, die zusammenkommen, um freundlich zu trinken und in einer Vielzahl von Sprachen zu plaudern.

Einige alte Narben wurden poetisch konserviert. Der Architekt Peter Zumthor hat die von alliierten Bomben zerstörten Ruinen einer mittelalterlichen Kirche in das Kolumba-Museum gefaltet, wo fleckiges Sonnenlicht durch ungleichmäßige Perforationen in der hellen Ziegelhülle fällt. Aber die öffentlichen Räume rund um die Kathedrale wurden im Zuge einer miserablen Stadtplanung der Nachkriegszeit angelegt. Als ich dort stehe, inmitten der unförmigen Anordnung von Plätzen, Straßen und Überführungen, die es fast schafft, die inhärente Erhabenheit des Ortes zu zerstören, bin ich niedergeschlagen – zumindest bis ich auf einen pervers optimistischen Kommentar des Nachkriegsschriftstellers Heinrich Böll stoße. „Nicht einmal der Industriedreck kann dem Rhein seine Majestät rauben“, sagte Böll. „Es kann sowohl schmutzig als auch majestätisch sein.“

Der Aachener Dom Karls des Großen

Immer noch auf der Suche nach stellvertretender Glückseligkeit mache ich einen Abstecher nach Heidelberg, das seit zweihundert Jahren wortgewandte Reisende verführt. Es ist eine alte Universitätsstadt mit pastellfarbenen Gebäuden und kastanienbraunem Stein, hübsch am Neckar gelegen und wie schon immer voller Touristen, Studenten und Fabulisten. Auf der Hauptstraße schlendere ich an einem anmutigen blassgelben Gebäude vorbei und ein Schild auf Japanisch fällt mir ins Auge: Es ist ein Luxus-Souvenirladen voller Steiff-Bären und Meissener Porzellan, das für Wohnungen in Tokio bestimmt ist. Über dem modernen Ladenschild hängt eine Marmortafel, und ich lache, als ich herausfinde, wie lange das Geschäft, deutsche Kultur für den öffentlichen Konsum zu verpacken, schon in diesen Räumlichkeiten stattfindet. Der Gedenktafel zufolge verschanzten sich die Schriftsteller Clemens Brentano und Achim von Arnim im Jahr 1808 in der Wohnung im zweiten Stock, um eine bahnbrechende Anthologie ländlicher Poesie mit dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ („Das Zauberhorn des Knaben“) zusammenzustellen. Die Texte über verliebte Jugendliche und plätschernde Bäche erfreuten sich großer Beliebtheit. Schulkinder lernten sie auswendig, Komponisten vertonten sie und Maler illustrierten sie, alles so, als wären die Verse dem Boden entsprungen. Aber die Redakteure legten mehr Wert auf das zeitgenössische Publikum als auf historische Quellen, und die berühmteste Legende des Rheins – die Loreley, die jeder Reiseführer auf jedem Flussschiff erzählt – war eine, die Brentano komplett erfunden hatte. Nicht einmal die alten Volksmythen sind immer alt – und manchmal sind es nicht einmal Volksmythen.

Selbst Heidelbergs kitschigste Touristenattraktion ist mit literarischen Kommentaren überlagert. Das Schloss, das halb zerstörte, aber immer noch prächtige Schloss auf einem Hügel oberhalb der Stadt, beherbergt den berühmten Heidelberger Tun, ein kolossales (aber nie genutztes) Weinfass, das so groß ist, dass es bequem ein paar Familien beherbergen könnte. Goethe lobte es. Für Heine war es ein Sarg, der groß genug war, um seinen Kummer zu fassen. Ich finde es ziemlich albern, ein Stück Tischlerarbeit, das viel weniger beeindruckend wirken würde, wenn man es einfach nur ein Haus nennen würde. Mark Twain brachte es auf den Punkt: „Ein leeres Fass von der Größe einer Kathedrale konnte in mir nur wenig Emotionen hervorrufen“, schrieb er. „Ich sehe keine Weisheit darin, ein riesiges Fass zu bauen, um darin Leergut zu horten, wenn man draußen, jeden Tag und kostenlos, eine bessere Qualität bekommen kann.“

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass der Rhein, der durch das Herz der deutschen Kultur verläuft, auch die Westgrenze Deutschlands definiert. Über Jahrhunderte hinweg breitete sich der nationalistische Eifer in entsetzlichen Ausbrüchen der Gewalt in der gesamten Au aus. Im 19. Jahrhundert wurde „Vater Rhein“ zum Symbol des deutschen Nationalstolzes und brachte Hunderte patriotischer Lieder hervor. „Sie werden ihn / den freien deutschen Rhein nicht haben ... solange die Felsen den Strom festhalten“, schrieb der Dichter Nikolaus Becker 1840. Aber die Franzosen besaßen das Westufer des Flusses, bis Deutschland es 1871 eroberte. Je nachdem Auf welcher Flagge auf den Zinnen wehte, war dieses Tiefland unter dem deutschen Namen Elsass-Lothringen oder der französischen Version Elsass-Lothringen bekannt.

Die Gegend ist jetzt durch und durch französisch und angenehm, und während ich über Landstraßen schlängele, vorbei an ruhigen Weinbergen und Marzipanstädten, kann ich kaum glauben, dass so viel Bitterkeit und Blut durch ihre Vergangenheit fließen. Die hier geführten Kriege sind ein Beweis für die seltsamen Zwänge der Fantasie. Armeen kämpften, um der Landschaft ihre unterschiedlichen, aber ähnlichen utopischen Visionen aufzuzwingen. Krieg ist die gewalttätige Seite des Mythos.

Als das Morden für eine Weile aufhörte, fanden die Elsässer schnell heraus, wie sie die Macht der Fantasie zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Die Stadt Sélestat sah sich mit der niedergebrannten und zerstörten Festung namens Château du Haut-Koenigsbourg konfrontiert, und anstatt sich mit der Mühe herumzuschlagen, sie zu reparieren, oder mit der Schande, sie einstürzen zu lassen, schenkten die Einheimischen sie geschickt Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1899 Der Kaiser brauchte keine veraltete Festung, um das Vaterland zu schützen, aber die Burg erwies sich als sehr nützliches Symbol für die Antike und Macht Deutschlands.

Der Gasthof zum Roten Ochsen wird seit fast zwei Jahrhunderten von der Familie Spengel geführt und ist vielleicht die beliebteste Kneipe der Welt. Zu den früheren Gönnern zählen Berichten zufolge Mark Twain, Marilyn Monroe und John Wayne.

Ich gehe durch die schweren Tore und marschiere durch Empfangsräume in Innenhöfe und Küchen, steige Treppen hinauf, entlang Stadtmauern, steige Rampen hinunter und hinauf in Türme. Jede Ecke ist darauf ausgelegt, den größtmöglichen Eindruck zu hinterlassen, aber ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, wer versucht, mich zu beeindrucken, oder warum. Der Architekt des Kaisers, Bodo Ebhardt, verfolgte bei der Restaurierung dessen, was damals nur eine Hülle eines Gebäudes war, einen konsequent archäologischen Ansatz. Er untersuchte die antiken Pläne, untersuchte ausführlich mittelalterliche Bautechniken und untermauerte seine Vermutungen durch Nachforschungen. Haut-Koenigsbourg repräsentiert den neuesten Stand der Genauigkeit der Jahrhundertwende. Und doch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich auf einem Hintergrundstück unterwegs bin, das Produkt einer spektakulär detaillierten Illusion von irgendjemandem.

Diese ganze Verkrustung von Geschichte und Überlieferungen kann bedrückend werden, wenn man damit leben muss. Selbst am Rhein spielt sich das moderne Leben nicht zwischen brütenden Felsen und geistreichen Wäldern ab, und dieser Teil der Welt weiß ein oder zwei Dinge über die Gefahren übermäßiger Mythenbildung. Infolgedessen wurde das Epizentrum des westeuropäischen Nationalismus zum Herzen der Eurozone umfunktioniert. Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland ist nur durch ein Schild mit der Aufschrift „Willkommen“ oder „Bienvenue“ gekennzeichnet. Und während ich mich den Alpen nähere, spüre ich eine immer stärker werdende Weltoffenheit. Mir wurde gesagt, dass die vorteilhafteste Art, sein Leben zu gestalten, darin bestehe, in Frankreich zu wohnen, in die Schweiz zu pendeln und in Deutschland einzukaufen. Der EuroAirport in der Nähe von Basel bedient alle drei Flughäfen. Das Verschwinden sichtbarer Grenzen signalisiert den Fortschritt der Zivilisation – zumindest hier führen Länder keinen Krieg um Rasenstreifen. Und doch vermisse ich die Romantik dieser Überfahrten, die ich als Kind kannte, als ich in Italien lebte und durch ganz Westeuropa reiste, das Flüstern der Gefahr, das während des Kalten Krieges andauerte, der angedeutete Hinweis, dass die eigenen Papiere möglicherweise nicht den Anforderungen genügen. Grenzen behinderten die Bewegungsfreiheit der Menschen, gaben ihnen jedoch die Möglichkeit, sich fortzubewegen.

In der Nähe von Basel fließt der Fluss durch die deutsche Stadt Weil am Rhein und ist der ultimative Ausdruck einer schicken transnationalen Utopie: der Vitra Campus. Der Hauptsitz des Designbüros ist auch ein spannender architektonischer Themenpark. Zaha Hadids extravagant unpraktisches Feuerwehrhaus posiert neben Frank Gehrys wackeligem Museum, einer geodätischen Kuppel von Buckminster Fuller und Herzog & de Meurons seussianischer Anordnung aus in alle Richtungen gestapelten Langhäusern. Ich verbringe einen fröhlichen Morgen damit, diese Ansammlung von Gebäuden zu besichtigen, und verbringe dann einen gemütlichen Nachmittag damit, Wohnzimmer, Beleuchtung und Küchengeräte zu untersuchen, die ich nicht kaufen möchte. Ich komme nicht umhin, über die transformativen Kräfte der Konsumkultur zu staunen. Im alten Europa behaupteten Potentaten ihre Herrschaft durch Burgen, Lieder und Blutvergießen; Im heutigen Europa behaupten die Mächtigen ihren Status durch Stil. Zumindest in dieser grenzenlosen kosmopolitischen Zone ist die konsumfreundliche Ästhetik an die Stelle getretenVaterlandUndLandals die höchsten menschlichen Ziele. Es ist vielleicht eine weniger hochtrabende Philosophie, aber auch weniger tödlich.

Die aufstrebenden Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts, die auf der Grand Tour der Rheinstraße nach Süden folgten, kämpften sich auf der Suche nach antiker Kultur über die Berge nach Italien. Auch ich mache mich auf den Weg in die Schweizer Alpen, auch wenn ich inzwischen bestrebt bin, all die literarischen und künstlerischen Geister zu vertreiben, die mich über sechshundert Meilen verfolgt haben, und mich einfach auf den Weg zu machen. Nach ein paar Tagen intensiven Wanderns mache ich mich auf den Weg zum Gotthardpass über eine Straße, die mühsam Serpentinen über kahle, felsige Felder führt, die von unaufhörlichen Winden gepeitscht werden. Ich bleibe stehen, um den knappen Sauerstoff auf der Kontinentalscheide zu schlucken. Irgendwo unter meinen Stiefelsohlen versucht ein Grundwasserrinnsal zu entscheiden, ob es sich nach Süden in Richtung Mittelmeer wendet – oder nach Norden fließt, sich mit anderen Quellen und Strömen der Gletscherschmelze verbindet und seine Energien sammelt, um den großen Fluss zu bilden, der mitten durch Europa fließt Seele.